Paradies für Betrüger

Zwei Chinesen versuchen auf den Marshallinseln einen Staat im Staat zu errichten. Nun stehen sie in New York vor Gericht. Handelten die beiden eigenverantwortlich – oder im Auftrag der chinesischen Regierung? –

Von Angela Köckritz veröffentlicht in Die Zeit am 18. November 2022

Es ist ein grandioser Plan, mit dem Cary Yan und Gina Zhou im Jahr 2016 auf den Marshallinseln auftauchen, einem Staat von 58.000 Einwohnern, dessen Inseln und Atolle sich über eine Fläche von der Größe Mexikos in den Weiten des Pazifischen Ozeans erstrecken, auf halber Distanz zwischen Hawaii und Papua-Neuguinea.

Yan und Zhou, beide chinesische Staatsbürger, werben damals energisch für ihr Vorhaben, besonders bemühen sie sich um Kontakte zur Politik. Giff Johnson, ein prominenter Journalist des Landes, erinnert sich noch gut daran, wie es war, als er die beiden zum ersten Mal zum Interview trifft. Cary Yan, ein Mann von 50 Jahren, ist Direktor einer Nichtregierungsorganisation (NGO) mit Sitz in New York, die einen Beraterstatus bei den Vereinten Nationen innehat. Er spricht kein Englisch, doch seine Assistentin Gina Zhou, 34, übersetzt.

Yan hat Großes vor. Er will im Nordwesten des Inselstaats, auf dem Rongelap-Atoll, eine Sonderwirtschaftszone schaffen. Einen Ort der niedrigen bis nicht existenten Steuern und liberalen Einwanderungsbestimmungen. Einen Platz, an dem sich Offshore-Firmen ansiedeln dürfen und eines Tages ein steuerfreier Hafen entstehen soll. Ein Projekt, von dem auch die armen Einwohner profitieren sollen. Und wer weiß, vielleicht habe man ja irgendwann genug Geld zusammen, um die Inseln von der atomaren Verseuchung zu säubern, die die Amerikaner dort einst hinterließen?

“Ihre Idee war, einen Ort zu schaffen, der von so gut wie allen Gesetzen des Landes befreit wäre”, sagt Johnson.

Einen Staat im Staat.

Sechs Jahre später hat sich der Traum von der “Rongelap Special Administrative Region” oder RSAR, wie das Projekt abgekürzt wurde, zu einem gewaltigen Skandal ausgeweitet. Details können der Anklageschrift entnommen werden, denn Yan und Zhou stehen derzeit in New York vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, Geldwäsche betrieben und Regierungsbeamten der Marshallinseln Bestechungsgeld angeboten und gezahlt zu haben. Die NGO ist in New York registriert, Yan und Zhou fallen damit, obgleich sie keine US-amerikanischen Bürger sind, unter amerikanisches Recht.

Potenziell geht es in diesem Fall aber um viel mehr, nämlich um die größte geopolitische Herausforderung unserer Zeit: um das Ringen der beiden Supermächte USA und China. So abgelegen die Marshallinseln sein mögen – sie liegen im Zentrum einer Region, die zum Schauplatz eines Machtkampfs um die Vorherrschaft im Pazifik geworden ist. Noch immer dominieren hier die USA, doch China hat in den vergangenen Jahren massiv aufgerüstet. Die Volksbefreiungsarmee besitzt inzwischen – nach Anzahl der Kriegsschiffe – die größte Marine der Welt, wobei die Schiffe der USA viel größer sind und die USA auch mehr Flugzeugträger betreiben. Der Machtkampf dreht sich um Verbündete und Einflusszonen. Und sicher ist: Gelänge es China, einen Teil der Marshallinseln unter seinen Einfluss zu bringen, wäre das ein großer geostrategischer Trumpf.

Und zuletzt geht es auch um diese simple Frage: Wer sind diese beiden Chinesen eigentlich? Geschäftsleute? Betrüger, die ein Geldwäscheparadies schaffen wollten? Oder sind sie gar Agenten der chinesischen Regierung, die im Staatsauftrag auf den Marshallinseln, einem engen Verbündeten der USA, einen Staat im Staat errichten sollten?

Das jedenfalls vermutet Hilda Heine, die einstige Präsidenten der Marshallinseln, die sich früh gegen die Pläne der beiden Chinesen stellte und dafür um ein Haar von deren Verbündeten gestürzt wurde.

Ab dem Jahr 2016, so steht es in der Anklageschrift, laden Yan und Zhou Regierungsbeamte der Marshallinseln nach New York ein, um sie von ihrem Vorhaben zu überzeugen. Großzügig kommen sie für Flüge, Hotels und Unterhaltung auf. Im April 2018 lassen sie mehrere Regierungsbeamte zu einer Veranstaltung nach Hongkong einfliegen. Vor mehr als tausend Teilnehmern preisen sie ihr Vorhaben als Projekt im Stile Hongkongs an: ein Land, zwei Systeme. Unter diesem Schlagwort sicherte die chinesische Regierung den Bürgern Hongkongs zu, nach der Wiedervereinigung 1997 das eigene liberale System 50 Jahre lang beibehalten zu dürfen. Ein Versprechen, das sie spätestens im Jahr 2020 mit der Einführung eines drakonischen Sicherheitsgesetzes brach.

Damals, im Jahr 2018, erzählt der Journalist Giff Johnson, erfährt auch die US-Botschaft auf den Marshallinseln von dem Projekt. Agenten in Hongkong vermarkten die RSAR fälschlicherweise unter dem Slogan: Investiere auf den Marshallinseln, und erhalte eine Greencard. Journalisten fragen daraufhin beim US-Konsulat in Hongkong nach. Die dortigen Diplomaten rufen ihre Kollegen in der US-Botschaft der Marshallinseln an. Dort, sagt Johnson, wären damals “die Alarmglocken” angegangen.

Eine geopolitisch äußerst bedeutende Position

Er habe die Chinesen von Anfang an misstrauisch betrachtet, sagt Johnson. “Ich hielt die beiden für Betrüger.” Von denen hat Johnson schon viele erlebt, seine Heimat sei ein so abgelegener Ort, der ziehe “solche Leute” an.

Im August 2018 reicht einer der Politiker, die mit Yan und Zhou verbündet sind, einen Gesetzesentwurf im Parlament der Marshallinseln ein, der der Sonderwirtschaftszone den Weg bereiten soll. Von diesem Zeitpunkt an versuchen Yan und Zhou, mehrere Regierungsbeamte zu bestechen, um ihren Plan voranzubringen. Einem bieten sie einen zinsfreien “Kredit” über 22.000 Dollar an, einem anderen versuchen sie 10.000 Dollar zu schicken. Insgesamt ist von Bestechungsversuchen von sechs “Regierungsbeamten” die Rede, einer lehnt das Angebot ab.

Die damalige Präsidentin Hilda Heine aber stellt sich gegen den Gesetzesentwurf. Die geplante Sonderwirtschaftszone stehe nicht im Einklang mit Verfassung und Rechtsstaatlichkeit. Zudem verletzte sie internationale Zusagen, die ihr Land zur finanziellen Transparenz abgelegt habe, um Geldwäsche zu vermeiden.

Im November 2018 strengen Yans und Zhous Verbündete ein Misstrauensvotum gegen Heine an, das diese nur knapp übersteht. Daraufhin sendet einer der Verbündeten laut Anklageschrift eine E-Mail an Yan und Zhou, in der er “Rache” an der Präsidentin schwört.

Bei den folgenden Wahlen im Jahr 2019 wird Heine abgewählt. Danach locken Yan und Zhou Regierungsbeamte erneut mit Geld. Am 20. März 2020 stimmt das Parlament schließlich für das “RSARGesetz”, die Folge: Der Sonderwirtschaftszone steht nun im Prinzip nichts mehr im Weg. Doch es kommt anders: Ein paar Monate später werden Yan und Zhou, die mittlerweile auch die Staatsangehörigkeit der Marshallinseln angenommen haben, auf Betreiben der USA in Thailand festgenommen. 2022 werden sie in die USA überstellt, wo sie von September an vor Gericht stehen.

Die Marshallinseln gehören seit vielen Jahren zum amerikanischen Einflussbereich. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen die USA die Treuhandschaft für den Inselstaat. In den Vierziger- und Fünfzigerjahren führten sie dort 67 Atombombentests durch. Im Jahr 1954 wurde das Atoll Rongelap von einer Wasserstoffbombe verwüstet – der stärksten Atombombe, die die USA je gezündet haben, tausendmal durchschlagender als die Atombomben, die auf Hiroshima und Nagasaki fielen. Keiner hatte die Bewohner Rongelaps gewarnt, viel zu spät wurden sie evakuiert – dann aber bald wieder nach Rongelap zurückgeschickt, weil die Atomenergiebehörde die Effekte radioaktiver Strahlung studieren wollte.

Noch immer sind weite Teile des Atolls radioaktiv verseucht. Seit 1986 sind die Marshallinseln unabhängig, doch weiterhin sind sie ein enger Verbündeter der USA. Die Bürger dürfen in den USA leben, arbeiten und studieren. Im Gegenzug haben die USA umfassenden Zugang zu Land und Wasser der Marshallinseln. Auf dem Kwajalein-Atoll betreiben die USA neben einer Radar- und Weltraumüberwachungsstation eine ihrer wichtigsten Raketentest-Stationen. Dort werden alle Systeme getestet, die Nuklearsprengköpfe transportieren – sowie die entsprechenden Abwehrsysteme. Während des Kalten Krieges ließ die Sowjetunion stets im Abstand von zwölf nautischen Meilen ein Spionageboot vor der Küste kreuzen.

Bis heute haben die pazifischen Inselstaaten eine geopolitisch äußerst bedeutende Position: Sie liegen auf der sogenannten zweiten Inselkette. Der Pazifik, an dessen jeweiligen Enden sich China und die USA befinden, bedeckt ein Drittel der Erdoberfläche. Auf diese riesige Fläche aber verteilen sich nur 20 Inseln, die größer sind als 10.000 Quadratkilometer. Militärstrategen nennen dies “die Tyrannei der Entfernung”. Jedes Inselchen erhält damit große strategische Bedeutung.

Das erkannten die Amerikaner, die bereits 1911 den Plan entwickelten, Japan seine pazifischen Gebiete streitig zu machen. Während des Zweiten Weltkriegs rückten sie Stück für Stück auf die japanische Küste vor. Nach Kriegsende übernahmen die USA die Treuhandschaft für mehrere pazifische Inseln, darunter auch die Marshallinseln.

China sucht im Pazifischen Ozean nach Verbündeten

Wenig später entwickelte US-Außenminister John Foster Dulles die Theorie der Inselketten. Mithilfe von Militärbasen wollten die USA die Sowjetunion und China einzirkeln, um deren Seezugang zu beschränken. Der Oberbefehlshaber der USA im Pazifikkrieg, Douglas MacArthur, beschrieb die Bedeutung der Inseln einst so: “Von dieser Inselkette aus können wir auf dem Meer und aus der Luft jeden asiatischen Hafen von Wladiwostok bis nach Singapur dominieren und jede feindliche Bewegung im Pazifik verhindern.”

Und genau deshalb beobachteten die USA, die die pazifischen Inseln lange vernachlässigt hatten, mit Bestürzung, wie der chinesische Außenminister Wang Yi im Mai dieses Jahres in die Region reiste, weil er ein weitreichendes Abkommen mit den pazifischen Inselstaaten schließen wollte. Zwar gelang es Wang Yi nicht, sie hinter sich zu einen. Immerhin aber unterzeichnete er mehrere Abkommen mit den Salomoninseln, darunter ein Sicherheitsabkommen, dessen Inhalt geheim ist. Bekannt ist nur ein Entwurf, der im März an die Öffentlichkeit gelangte. Demnach darf China Sicherheitskräfte in die Region senden, um Unruhen niederzuschlagen und die eigenen Investitionen zu sichern.

Auch sonst sucht China im Pazifischen Ozean nach Verbündeten, indem es Kredite vergibt, Investitionen tätigt und Stipendien gewährt. Nach eigenen Angaben hat China in den vergangenen Jahren insgesamt 2,72 Milliarden US-Dollar in die Inselstaaten investiert (darunter dürften auch Kreditzusagen fallen).

Doch noch aus einem weiteren Grund sind die Marshallinseln für Peking interessant. Sie sind eines von nur 13 Ländern weltweit, die Taiwan anstelle der Volksrepublik China anerkennen – die möchte Taiwan international isolieren.

Eilig versuchen sich nun auch andere Länder wieder ins Spiel zu bringen. Australien hat neue Botschaften auf den Pazifischen Inseln eröffnet, die USA wollen dies ebenfalls tun. Im September lud US-Präsident Joe Biden die Staats- und Regierungschefs der pazifischen Inseln zum ersten gemeinsamen Gipfel in der Geschichte ein. Die Inselstaaten spielen eine bedeutende Rolle in der neuen US-Indo-Pazifik-Strategie. Auch Deutschland hat neuerdings eine Botschafterin für die pazifischen Inseln ernannt, derzeit mit Sitz in der australischen Hauptstadt Canberra.

Die Bewohner und Bewohnerinnen sehen das plötzliche Interesse an ihrer Heimat mit gemischten Gefühlen. Einerseits bietet es ihnen mehr Verhandlungsspielraum und Investitionspotenzial, andererseits fürchten sie, erneut zum Gras zu werden, über das die kämpfenden Elefanten trampeln.

“Lange wurden wir für die geopolitischen Strategien fremder Mächte benutzt”, sagt Sandra Tarte, Direktorin der Abteilung für Politik und Internationale Beziehungen an der Südpazifischen Universität in Fidschi. Um zu verhindern, nur Spielball zu sein, haben sich die pazifischen Inseln nun zur Allianz “Blue Pacific” zusammengeschlossen, “um der Welt kollektiv zu vermitteln, wo unsere Interessen und Prioritäten liegen”.

Bleibt am Ende die Frage, wer Cary Yan und Gina Zhou, die beiden rätselhaften Chinesen, die in New York vor Gericht stehen, wirklich sind.

Vielleicht – ja, wahrscheinlich – sind sie tatsächlich schlicht Betrüger, die auf eigene Rechnung handelten. Wäre ihre Sonderwirtschaftszone aber verwirklicht worden, wäre dadurch ein Ort entstanden, an dem Gesetze wenig gelten. Das hätte vermutlich Geldwäscher, Steuerhinterzieher oder andere Kriminelle angezogen. Ein solcher Ort wäre aber auch ein ideales Sprungbrett für eine Regierung wie die chinesische gewesen, die sich an vielen Orten ziviler Akteure bedient, um staatliche Ziele zu verfolgen. Fischer, die Fischer anderer Nationen aus umstrittenen Seegebieten vertreiben. Studenten, die im Ausland Industriespionage betreiben. Oder Privatunternehmen, die Pekings Interessen vorantreiben.

Vielleicht wird das Rätsel um die Identität von Yan und Zhou nie endgültig geklärt werden können – das Ergebnis des Gerichtsprozesses gegen sie dürfte in jedem Fall interessant sein.

 

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